Gestern habe ich euch von einer Frau erzählt, die zu einer Beratung zu mir kam mit der Idee im Kopf, dass sie eine Beziehungspause wolle. Da war noch ein anderer Mann, der darüber nachdachte, seine Freundin zu verlassen. Seine Situation jedoch war etwas anders und das gab mir wieder einmal den Eindruck, dass der Individualismus, der im Westen so beliebt ist, in Wirklichkeit für die Herzen der Menschen sehr grausam ist.
Dieser Mann erzählte mir, dass er 20 Jahre lang verheiratet gewesen war, eine Frau und Kinder gehabt hatte, dann jedoch seine Familie verlassen hatte und sich hatte scheiden lassen. Der Grund? ‚Es war mir einfach zu viel!’ versuchte er zu erklären. Er hatte den Eindruck gehabt, dass in sein Familienleben zu involviert war und er dadurch seine Freiheit verliert. Da gab es so viele Dinge, die er in seinem Leben noch tun wollte, selbst im Alltag und die mit einer Familie, mit Kindern und all der Verantwortung, die damit zusammenhängt, einfach nicht möglich waren! ‚Ich will auch meine Spiritualität leben, die Energie meines wahren Ich ausdrücken und mehr als Yogi leben!‘ Also ging er.
Nach einiger Zeit allein, traf er wieder eine Frau. Mit ihr begann er eine offene Beziehung. Sie leben in getrennten Häusern, sie macht ihr Ding, er lebt sein Leben, aber sie haben auch eine Beziehung. Eine offene Beziehung, was klar gesagt bedeutet, dass sie beide auch mit anderen Leuten Sex haben können. Das hört sich an, als hätte er seine volle Freiheit, während er auch jemanden hat, mit dem er Intimität genießen kann, oder? Naja, nein, ihm erschien das nicht so. Eigentlich hatte er das gleiche Gefühl wie Jahre zuvor in seiner Ehe!
Er hatte das Gefühl, dass diese Frau zu sehr von ihm abhängig war und dass er dadurch zu viel Verantwortung hatte, selbst ohne Kinder, sogar mit getrennten Wohnungen. Ihr lag sehr viel an ihm und obwohl sie einander erlaubten, auf Dates mit anderen zu gehen, tat sie das nicht. Er sagte ‚Ich bin wieder in dieser Situation!‘ doch er zögerte, sie zu verlassen. ‚Wenn ich sie jetzt verlasse, ist sie am Boden zerstört! Und sie hat dann niemanden, der ihr wieder aufhilft! Sie ist dann ganz alleine!‘
Er fasste es für mich zusammen: ‘Ich will sie nicht so verletzten – aber ich will meine Freiheit!‘
Ich fragte ihn: liebst du sie?
Zwei Minuten lang saß er mit geschlossenen Augen vor mir, bevor er langsam sagte ‚Ja, ich glaube, ich liebe sie!‘
Das wusste ich bereits. Es war keine echte Frage, sondern eine Hilfe zur Realisierung! Ich glaube, es ist Liebe, wenn man sich um jemanden sorgt und sein Zögern, sich zu trennen, die Angst, sie zu verletzen, zeigte mir, dass er sie liebte. Warum also, fragte ich, würdest du diesen Schmerz verursachen. Nicht nur für sie, sondern auch für dich! Weil egal, wie offen du bist, wenn du eine Beziehung zu jemandem führst, wenn du jemandem im Herzen nahe stehst, ist da Liebe. Und wenn du dieses Band trennst, dann schmerzt es!
Liebe ist das Wichtigste in deinem Leben. Habe keine Angst davor, dass dir jemand wirklich nahe kommt – das wird dich nicht deine Freiheit kosten! Du kannst frei sein, auch wenn du liebst!
Es steht dir nun also frei zu tun, was du willst, doch wäre ich in deiner Situation, würde ich mich für die Liebe entscheiden, nicht für die Angst!